Mein 2018: Lieblingsalben

10 The Decemberists – I’ll Be Your Girl
Spätestens in diesem Jahr hat dieser back-to-the-80s-Trend auch Acts erreicht, die ich normalerweise gerade dafür schätze, dass sie ganz und gar nicht nach den Achtzigern klingen: Dawes, Josh Rouse – und auch The Decemberists. Die Folkrocker aus Portland spielen auf „I’ll Be Your Girl“ mit Synthie-Arpeggios, Flanger-Drums, Saxophon-Solos, Fretless-Bässen und U2-Gitarren. Liest sich, als wäre das Musik zum Wegrennen. Doch auf wunderbare Weise funktioniert dieser Klang-Ausflug. Was an den starken Songs liegt („Cutting Stone“, „Sucker’s Prayer“ oder das geniale „Russalka, Russalka / The Wild Rushes“). Und daran, dass Colin Meloy & Co. diese Soundelemente stets gezielt und geschmackssicher einzusetzen wissen.

9 Van William – Countries
„Was sind das bloß für Menschen die Beziehungen haben / Betrachten die sich denn als Staaten?“ Diese Zeile von Heinz-Rudolf Kunze kommt mir in den Sinn, wenn ich an das Solo-Debüt von Ex-Port O’Brien-Sänger Van William denke. Auf „Countries“ verarbeitet der Fischersohn aus Alaska unter anderem das Ende einer sechsjährigen, naja… Beziehung und benutzt genau das gleiche Bild: ihn fessele die idea of two people in a relationship acting as separate countries, hat er in einem Interview gesagt. Mehr noch, er schlägt sogar den ganz großen Bogen zur Politik und vergleicht derart Zwischenmenschliches mit dem aktuellen politischen Klima in den USA. Was die Platte so charmant macht: diese inhaltliche Schwere hört man den im sonnigen Kalifornien aufgenommenen Songs kaum an – ein faszinierender Kontrast.

8 Ben Harper & Charlie Musselwhite – No Mercy In This Land
Wie relevant Blues als Protestmusik im Jahr 2018 ist, beweisen Ben Harper (Gitarre, Gesang) und Charlie Musselwhite (Mundharmonika, Gesang) auf ihrem zweiten gemeinsamen Album: sie besingen wütend die Flüchtlingspolitik der aktuellen US-Regierung, gehen gnadenlos mit der eigenen (überwundenen) Alkoholabhängigkeit ins Gericht, berühren mit Zeilen übers Älterwerden (Harper) oder gar den Mörder seiner Mutter (Musselwhite). Handwerklich sind die zwei und ihre Mitmusiker freilich über jeden Zweifel erhaben und die nahezu komplett live im Studio eingespielten Stücke klingen durchweg beseelt und zutiefst authentisch.

7 Lawrence – Living Room
Was für ein Jahr für die Geschwister Clyde und Gracie Lawrence und ihre Band! Ausverkaufte Konzerte, Touren durch die Vereinigten Staaten und Europa, ein erster Auftritt in einer landesweiten Late-Night-TV-Show. Vor allem aber: die Sache mit dem schwierigen zweiten Album souverän gemeistert. „Living Room“ bringt einerseits mehr von diesem gut gelaunten Funk-Pop, mit dem Lawrence sich einen Namen gemacht haben. Andererseits ist da eine neue Reife und Tiefe hörbar, der Mut zur Reduktion, zum Detail. Was die Sache gleich noch viel interessanter macht.

6 Dave Matthews Band – Come Tomorrow
Was für ein Jahr aber auch für Dave Matthews und sein Millionenunternehmenseine Band! Erst der Rausschmiss von Geiger Boyd Tinsley, der sich vor Gericht dem Vorwurf der sexuellen Nötigung stellen muss. Dann die erste Tour seit 2016, und das ohne Gründungsmitglied Tinsley, dafür mit dem neuen Keyboarder Buddy Strong. Und zwischen all dem stand da noch die Fertigstellung des lang erwarteten neunten Albums der Dave Matthews Band auf der To-Do-Liste. „Come Tomorrow“ ist ein Sammelsurium aus verschiedenen zwischen 2006 und 2017 abgehaltenen Aufnahmesessions, mit vier Produzenten und wechselnden Musiker-Line-Ups. Hätte also auch mächtig schief gehen können, hat aber geklappt. Matthews und seine Kollegen klingen auf „Come Tomorrow“ verblüffend zeitgemäß; live soll die Band in diesem Sommer eine Sensation gewesen sein.

5 Isaac Gracie – Isaac Gracie
Die Musik des langhaarigen Londoners ist absolut nicht innovativ oder revolutionär. Aber sie ist sagenhaft gut. Isaac Gracie sieht aus, als hätten wir noch 1993, doch er schreibt und singt im besten Sinne zeitlose Songs – über sich selbst, die Liebe, den Alkohol, über Hoffnung und Verzweiflung. Mal erinnert er mich an Nick Drake, mal an Jeff Buckley, was ja nicht die schlechtesten Assoziationen sind. Trotzdem ist da ein eigenständiger Gracie-Sound, eine durchaus selbstbewusste Haltung; für’s bloße Zitieren oder Nachahmen ist er viel zu clever und versiert. Meine persönliche Singer-/Songwriter-Entdeckung des Jahres.

4 Dawes – Passwords
Mir war vollkommen klar, dass der Nachfolger zu „We’re All Gonna Die“ ebendieses Meisterwerk im Dawes-Katalog nicht würde toppen können. Muss es auch gar nicht. Dafür sind die einzelnen Alben der Band zu verschieden, auch erwarte ich von keiner Band, dass sie sich ständig überbieten muss. Tatsächlich ist „Passwords“ ziemlich anders als „We’re All Gonna Die“. War die 2016er Platte sowas wie der perfekte Soundtrack für einen Nachmittag mit Freunden am Strand, so ist die 2018er eher Musik für einen Winterabend mit Scotch und schweren Gesprächen. Dawes verhandeln auf „Passwords“ die ganz großen Themen wie gesellschaftlichen Zusammenhalt, ewige Liebe und technischen Wandel und packen dies in ein synthesizerlastiges, geradezu spaciges Klanggewand. Und machen damit mal wieder alles richtig.

3 Pinegrove – Skylight
Warum Pinegrove seit Herbst 2017 eine knapp einjährige Zwangspause eingelegt haben, lässt sich nicht kurz und knapp erklären, dafür aber in aller Ausführlichkeit nachlesen. Schön, dass die Band seit September wieder „da“ ist und „Skylight“ nun doch erschienen ist. Wie keine andere Band mixen Pinegrove Indie-Rock und Alternative Country. Verblüffend, wie viel Tiefe und Seele auch in diese Anderthalbminüter passen, die sie immer wieder zwischen ihren längeren Songs einstreuen. Nach wie vor: das Kollektiv um Evan Stephens Hall hat eine große Zukunft vor sich.

2 Blues Traveler – Hurry Up & Hang Around
Blues Traveler-Fans mussten in letzter Zeit sehr geduldig sein – erst wurde das im Mai 2017 eingespielte Album für den Herbst des gleichen Jahres angekündigt. Dann für Januar 2018. Dann für Juni 2018. Nur, um es im Mai auf den Oktober zu verschieben. Doch dann kam es wirklich, und für die Warterei wurde man bestens entschädigt. Kaum zu glauben, dass dies der Output einer Band ist, die bereits mehr als 30 gemeinsame Jahre auf dem Buckel hat. Die Zeit der Songwriting-Kooperationen und Soundexperimente ist erstmal vorbei. Lustigerweise hat uns genau das das inspirierteste und selbstbewussteste Blues Traveler-Album seit vielen Jahren beschert.

1 Brandi Carlile – By The Way, I Forgive You
Die Geschichten, die Brandi Carlile auf diesem Album erzählt, berühren mich zutiefst. Das geht mit der Titelzeile los, gerichtet an jenen Pastor, der sich weigerte, Brandi im Teenageralter zu taufen, weil sie schon damals offen mit ihrer Homosexualität umging. Da ist „The Mother“, in dem sie die Liebe zu ihrer Tochter Evangeline besingt. Da ist aber auch die Story von „Sugartooth“, der den Drogen nicht entsagen konnte. Und und und. Dass Carlile zu den ganz großen Sängerinnen unserer Zeit gehört, war ja lange klar. „By The Way, I Forgive You“ ist ihr bisheriges Meisterwerk. Und das Herzergreifendste, was ich in diesem Jahr hören durfte.

Meine zehn Lieblingsalben 2018 gibt’s hier als Spotify-Playlist.

Siehe auch:
Lieblingsalben 2017, 2016, 2015, 2014, 2013, 2012, 2011, 2010, 2009, 2008, 2006, 2005, 2004.

Autor: Daniel Heinze

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