Im Rahmen der Reihe „Musik und Besinnung“ durfte ich am 5. September erneut in der Leipziger Nikolaikirche in einer kurzen Laienpredigt über ein Kirchenlied, das Christen vieler Konfessionen regelmäßig singen, ein paar Gedanken äußern. Diesmal ging es um „Hilf, Herr meines Lebens“, im Folgenden das Manuskript des kleines Vortrages.
In diesem Kirchenjahr nehmen wir uns hier bei „Musik und Besinnung“ die Kirchenlieder vor, die wir Woche für Woche in den Gottesdiensten singen. Die zu unserem Leben einfach so dazugehören. Und die uns treue Begleiter im Leben sind. Heute betrachten wir ein vergleichsweise modernes Stück – wenn man jetzt mal die Kirchenlieder-Superhits von Leuten wie Paul Gerhardt als „Klassiker“ nimmt. Das Lied heißt „Hilf, Herr Meines Lebens“. Geschrieben hat es der evangelische Pfarrer und Kirchenliederdichter Gustav Lohmann, geboren 1876 in Witten in Nordrhein-Westfalen. Gestorben ist dieser Pfarrer Lohmann 1967 im Stolberg im Rheinland.
„Hilf Herr Meines Lebens“ ist ohne Frage sein bekanntestes Lied. Er schrieb es im hohen Alter, es war das Jahr 1962. Der Vollständigkeit halber sei gesagt: von Lohmann stammen die Strophen 1, 2, 4 und 5 – die dritte Strophe stammt von Markus Jenny. Längst hat sich das Lied zu einem ökumenischen „Hit“ entwickelt. Sie finden es natürlich im Evangelischen Gesangbuch, es ist die Nummer 419. Aber auch im katholischen „Gotteslob“ hat es seinen festen Platz: als Nummer 622. Selbst im Mennonitischen Gesanbuch finden Sie Lohmanns Verse, Lied Nummer 102. Was ist es, was uns so berührt an diesem Stück? Am besten, wir nähern uns dieser Frage, in dem wir uns Strophe für Strophe anschauen und kurz darüber nachdenken. Falls Sie also mitlesen möchten: im Gesangbuch ist das die Nummer 419.
Hilf, Herr meines Lebens,
dass ich nicht vergebens,
dass ich nicht vergebens hier auf Erden bin.
Einfache, klare Worte – und eine Grundangst, die wohl jeder Mensch so oder so ähnlich kennt. Es ist nicht mehr oder nicht weniger als die Frage nach dem Sinn des Lebens. Wozu bin ich hier auf der Erde? Was hat das alles für einen Sinn? Warum lebe ich? Fälle Entscheidungen? Lerne? Wachse? Gründe eine Familie?
Mir scheint, als habe Pfarrer Lohmann die Antwort schon gefunden: denn er ruft all diese existentiellen Fragen nicht verzweifelt. Er schreit sie nicht ins Leere. Nein, er formuliert sie als Bitte. Und das an einen ganz klaren Adressaten: Hilf Du, Herr meines Lebens. Ganz klar: Hilf Du, Gott. Das ist also auch eine Art Gebet, das wir hier immer wieder in den Gottesdiensten singen.
Und mir scheint, dass Lohmann in seinem Leben oft die Erfahrung gemacht hat, dass Gott für ihn da ist: sonst würde er ihn nicht so klar als den „Herrn seines Lebens“ ansprechen. Schon klingt das alles eben nicht mehr hoffnungslos oder ängstlich, sondern fast schon wie ein vertrautes Zwiegespräch: Bitte hilf mir, Du mein Gott, dass ich mein Leben sinnvoll gestalte.
Die zweite Strophe hält einen weiteren Ehrentitel für Gott bereit:
Hilf, Herr meiner Tage,
dass ich nicht zur Plage,
dass ich nicht zur Plage meinem Nächsten bin.
Gott, Jesus – als der „Herr meiner Tage“. Er schenkt Leben. Er ist der, der alles in den Händen hält. Ihm kann ich mich anvertrauen. Ihn darf ich bitten. Und was für eine großartige Bitte das ist in der zweiten Strophe: „Dass ich nicht zur Plage meinem Nächsten bin.“ Nein, hier bittet keiner: Hilf, Herr, dass mich mein anstrengender Nachbar nicht mehr so nervt. Oder: Mach, Herr, dass ich stressfrei und ohne Probleme durchs Leben komme. Oder: Gib, Gott, dass es mir gut geht.
Ganz im Gegenteil. Hilf mir, dass ICH nicht den anderen zur Plage werde. Damit ist jetzt sicher nicht nur gemeint, dass ich vielleicht manchmal ganz schön geschwätzig bin und andere mit meinen Ausführungen und Vorträgen nerve – das vielleicht auch. Aber das geht noch tiefer: Wer den anderen in seinem Leben nicht hilft, ihn behindert oder einschränkt, der ist eine Plage. Wer Hilfe nicht dort leistet, wo sie nötig ist, der ist eine Plage. Wer grundsätzlich erstmal fragt: Und, was hab ICH davon? Der kann anderen damit gehörig auf die Nerven gehen. Und zerstört dadurch ein gutes Miteinander.
Jeder weiß das, und trotzdem passiert es immer wieder, dass Leute wider besseren Wissens so ticken und so handeln. Und das hier ist die Bitte: Lieber Gott, hilf mir, diesen übertriebenen Egoismus rechtzeitig zu erkennen. Damit ich ein Segen sein kann für meinen Nächsten, und keine Plage.
Jetzt kommt die dritte Strophe. Das ist die, die nicht Lohmann, sondern Markus Jenny schrieb. Aber sie passt wunderbar hinein:
Hilf, Herr meiner Stunden,
dass ich nicht gebunden,
dass ich nicht gebunden an mich selber bin.
Das geht in eine ganz ähnliche Richtung wie die zweite Strophe. „Gebunden an sich selber sein“ – ich verstehe das so: dass ich MICH als den Mittelpunkt meines Lebens sehe, dass ich mir Schätze anhäufe, Reichtümer. Dass ich von mir selbst abhängig werde und den Blick auf das Wichtige, auf das Große und Ganze verliere. Hier lese ich den Wunsch raus, Gott in die Mitte des Lebens stellen zu wollen. Gebunden an sich selbst zu sein – das kann auf die Dauer ganz schön einsam, langweilig und uninspirierend werden. Was, wenn ich mir irgendwann selbst zu viel bin? Gott hingegen als die Mitte meines Lebens – das ist ein Schatz, ein Reichtum, der mich erfüllen kann. Und der die Augen öffnet für die ganz reale Welt um mich herum.
In der vierten Strophe spricht Lohmann Gott als den „Herrn seiner Seele“ an:
Hilf, Herr meiner Seele,
dass ich dort nicht fehle,
dass ich dort nicht fehle, wo ich nötig bin.
Ich gehöre Gott, mit Leib und Seele. Er will meine Seele erfüllen mit seiner Liebe, mit seinem Versprechen, mich zu begleiten und zu führen. Ein Geschenk, dass kostbarer kaum sein könnte, und das ich besser in Ehren halten sollte. Und ein Geschenk, dass ich erst so richtig genießen kann, wenn ich es weiterverschenke. Wenn ich eben dort nicht fehle, wo ich nötig bin.
Wie gerne schimpfe ich auf „die da oben“. Was die wieder verzapft haben. In der Chefetage. Im Rathaus. Oder im Landtag, im Bundestag oder gleich in der UNO. Die bauen doch nur Mist, die sind alle korrupt, die sind dafür verantwortlich, dass alles den Bach runter geht. Hmmm – wenn jeder auf der Welt auf einen anderen zeigen würde, und nie irgendjemand mal auf sich selbst – dann bringt das doch keinen weiter. Nein, ich lebe als Mensch im Hier und Jetzt. Und es ist meine Pflicht, diese Welt mitzugestalten. Besser zu machen. Mich nervt die soziale Kälte im Land? Dann ab zur Tafel, und Essen ausgeteilt an die Menschen, die es brauchen. Schon wirds ein wenig sozial wärmer. Oder der gebrechlichen Omi aus dem dritten Stock einfach mal den Einkauf hochtragen. Oder klar und deutlich NEIN sagen, wenn sich mal wieder Stammtischparolen ausbreiten, wenn Fremde diskriminiert oder wie Dreck behandelt werden. Das waren nur ein paar Beispiele, wie ich „dort nicht fehlen“ brauche, wo ich nötig bin.
Und nein, das sage ich nicht, weil ich womöglich der total perfekte Vorzeige-Christ wäre, der all das immer und immer umsetzt. Das bin ich gewiss nicht. Ich sage das daher auch zu mir selbst und ich kann einstimmen in diesen Gesang: Hilf, Herr, dass ich dort nicht fehle. Hilf, dass ich es mir nicht zu bequem mache in der Welt und hoffe, dass alle anderen die Probleme lösen und sich schon irgendwie alles ganz wunderbar fügen wird. Hilf, dass ich es mir im Leben – nicht zuuu einfach mache.
Die letzte Strophe, die kennen wir schon. Es ist die Wiederholung der ersten. Wie eine Klammer umfässt sie die Bitten und Gebete der singenden Gemeinde: Hilf, Herr meines Lebens, dass ich nicht vergebens, dass ich nicht vergebens hier auf Erden bin. Ganz schön starker Tobak, und ein Lied, dass auch von dem, der es singt, eine Menge abverlangt.
Dabei habe ich noch einmal unseren Pfarrer Lohmann im Blick. 1962 hat er dieses Lied geschrieben, wie ich eingangs bereits erwähnte. Fünfundachtzig oder sechsundachtzig Jahre muss er da alt gewesen sein. Ich finde, das merkt man, dass hier ein Mensch mit sehr viel Lebenserfahrung und Weisheit gedichtet hat.
Einerseits finde ich es stark, dass es ihm gelungen ist, derartig tolle Aussagen über Gott zu treffen: Herr meines Lebens, Herr meiner Tage, Herr meiner Seele. Andererseits imponiert mir, dass er eben nicht im hohen Alter denkt: ach, ich hab alles schon erlebt, ich weiß, wie der Hase läuft, mir macht keiner was vor. Pfarrer Lohmann ist sich bewusst, dass er beides ist: winzig klein auf der Welt – aber auch einzigartig, und damit riesig groß und wichtig für Gott.
Ich darf Gott wie einen Freund ansprechen und ihm meine elementaren Sorgen und Gedanken Nahe bringen. Ohne Formulare, die ich vorher ausfüllen muss, ohne Sprechzeiten und Wartezimmer. Dieses Gespräch kann ich nutzen, wann immer ich will. Der Herr meines Lebens, meiner Tage, meiner Seele – hört mir zu. Und so kann ich voller Gottvertrauen immer wieder aufs Neue diesen Wunsch äußern – und gleichzeitig ganz aktiv daran mithelfen, dass mein Leben gelingt: Hilf, Herr meines Lebens, dass ich nicht vergebens hier auf Erden bin.
Mich würde ja mal interessieren, warum Markus Jenny für ein Lied mit ohnehin schon so kurzen Strophen nur eine einzige weitere gedichtet hat …
Gute Frage…
Vielleicht wollte er als angesehener Kirchenmusiker und Ökumeniker den Text um eine bestimmte für die „singende Kirchgemeinde“ relevante Aussage erweitern / komplettieren?